Stellungnahme zur Neufassung des Stalking-Paragraphen

Mit der Änderung des §238 StGB im Jahr 2017 sollte der Schutz gegen Nachstellungen (Stalking) nachhaltig verbessert werden. 3 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes wird evaluiert, ob das in der Rechtspraxis Früchte getragen hat – und welche Hindernisse weiterhin bestehen. In Rückkopplung mit der Praxis hat auch Frauenhauskoordinierung Stellung bezogen.

Berlin, 18.05.2020

Neufassung des § 238 StGB durch Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen vom 1. März 2017, in Kraft getreten am 10. März 2017 Evaluierung der Gesetzesänderung

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz beabsichtigt, den geänderten Stalking-Paragraphen, § 238 StGB, nach Ablauf von drei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes zu evaluieren (BT-Drs. 18/9946, S. 12: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/099/1809946.pdf). Dazu soll die staatsanwaltschaftliche und strafgerichtliche Praxis zu den Auswirkungen der Gesetzesänderung befragt werden.

Frauenhauskoordinierung wurde Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu den folgenden Fragen gegeben:

  1. Wurde das Ziel des Gesetzgebers, die Anwendung des § 238 Absatz 1 StGB durch die Umgestaltung von einem Erfolgs- in ein potentielles Gefährdungsdelikt (Eignungsdelikt) in der Praxis zu erleichtern und so den strafrechtlichen Schutz der Opfer von Nachstellungen zu verbessern, aus Ihrer Sicht erreicht?
  2. Bestehen aus Ihrer Sicht trotz der Gesetzesänderung weiterhin Probleme bei der Anwendung des
    § 238 Absatz 1 StGB, die den strafrechtlichen Schutz der Opfer von Nachstellungen erheblich erschweren, und worin bestehen diese gegebenenfalls?

FHK hat darauf mit folgender Stellungnahme reagiert:

 

Phänomen Stalking

Vor der Befassung mit dem Straftatbestand ist zunächst festzustellen, dass es für den Begriff Stalking keine allgemeingültige Definition gibt. Je nach Blickrichtung wird versucht, das Phänomen polizeilich, juristisch oder kriminalpsychologisch zu erfassen. Gerade letzterer Ansatz erkennt, dass die Bedrohung und Beeinträchtigung der Opfer weit früher ansetzt als es die strafverfolgenden Institutionen wahrnehmen (können). Objektive Kriterien stehen nur begrenzt zur Verfügung, um die Beeinträchtigung zu fassen. Die Strafrechtspraxis behilft sich hier mit äußeren Kennzeichen, indem in Abhängigkeit der Intensität der Handlungen Stalking bejaht wird: Vermeintlich weniger schwerwiegende Belästigungen wie Geschenke, Telefonate und Hinterhergehen werden erst ab einer gewissen Anzahl, Dauer oder Intensität tatbestandlich, bei heftigen Handlungen reichen schon einmalige Ereignisse. Wenn das Opfer sich gezwungen sieht, Telefonnummer, Arbeit oder Wohnung zu wechseln, wird es eher gehört. Das „starke“ Opfer, das diese Möglichkeiten nicht ergreift oder ergreifen kann, kommt seltener in den durch die Gesetzesänderung beabsichtigten Schutzbereich der Norm. Gerade das sollte aber vermieden werden.

 

1. Vom Erfolgs- zum Gefährdungsdelikt

Die Rückmeldungen aus der Praxis sind diesbezüglich – leider – ernüchternd. Grundsätzlich wird die Umgestaltung zum Gefährdungsdelikt weiterhin begrüßt, da gerade die Handlungen, die unter anderen Umständen als noch sozialadäquat gelten würden, häufig erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen haben. Um diese Effekte aber richtig einordnen zu können, bedarf es einer intensiven und zugewandten Betreuung der Opfer und einer hohen Sensibilisierung der Ermittlungsbehörden und Gerichte. Mangels hinreichender Kenntnisse zum Phänomen Stalking werden die Ereignisse bagatellisiert oder die Opfer nicht ernst genommen.

So bemerkt die Praxis keine Verbesserungen:

  • Nur wenige Stalking-Fälle, die überhaupt angezeigt werden, erreichen die Staatsanwaltschaft. Als Grund wird vermutet: Fälle werden eher als Sachbeschädigung, Nötigung oder Körperverletzung angezeigt, da hier offenbar eine bessere Aussicht auf „Erfolg“ besteht; Stalking selbst wird nicht als solches beschrieben und zur Strafverfolgung gebracht. Vergehen, die unter Stalking zusammengefasst werden, werden zunächst gesammelt, um sie dann ggf. zusammen zu betrachten = manchmal ergibt sich erst im Laufe der Zeit ein sichtbares Stalking-Muster.
  • Die Staatsanwaltschaft berücksichtigt die psycho-soziale Situation nicht.
  • Das Dunkelfeld für Stalking wird als sehr hoch eingeschätzt.
  • Das Bemühen der Staatsanwaltschaft, § 238 StGB anzuwenden,führt selten zu Anklageerhebungen und dementsprechend auch nicht zu Verurteilungen (Schätzungen geben 1-3 % der Fälle an). Stattdessen wird oftmals wegen anderer ebenfalls erfüllter Straftatbestände angeklagt/verurteilt.
  • Die Anwendung des §238 StGB bereitet unter juristischen Gesichtspunkten wohl erhebliche Schwierigkeiten. Eher werden Täter_innen mit Nachstellungstendenzen wegen des Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz, Beleidigung, Nötigung o.ä. Delikten angeklagt oder verurteilt.

 

2. Probleme bei der Anwendung des § 238 Absatz 1 StGB

  • Jurist_innen scheinen sich mit dem Straftatbestand der Nachstellung noch immer schwer zu tun und greifen auf bewährte Tatbestände (Körperverletzung, Beleidigung, Sachbeschädigung usw.) zurück. Dies liegt vor allem daran, dass der Nachstellungsparagraph viele unbestimmte Rechtsbegriffe beinhaltet und andere Straftatbestände, die ebenfalls meist erfüllt sind, sicherer zu begründen sind.
  • Weiterhin gibt es auch bei den Ermittlungen Verbesserungsbedarf. Trotz entsprechender Bemühungen fehlt es an ausreichender Expertise in diesem komplexen Spezialgebiet. Um die Erfolgsaussichten für eine Strafverfolgung zu erhöhen, sollten Fachdezernate bei der Polizei und Staatsanwaltschaft geschaffen werden. Die Opfer benötigen eine fachspezifische Beratung und Begleitung, die es ermöglicht, das Erlebte zu erzählen, und die die Handlungen einordnet. Durch eine derartige Vor- und Aufbereitung sowie Dokumentation der Fälle kann dann gezielt ermittelt und die Strafverfolgung betrieben werden.
  • Der Bereich der digitalen Gewalt (Cyber-Stalking, Missbrauch von intimen Fotos etc.) wird noch viel zu wenig beachtet. Teilweise verfügen die Ermittlungs- und Strafverfolgungsinstitutionen weder über technische Ausrüstung noch Know-How.
  • Die Ermittlungen dauern zu lange. In dieser Zeit kommt es zu weiteren Stalking-Handlungen, die für das Opfer sehr gefährlich werden können. Und Täter_innen empfangen das „Signal“, dass ihr Tun keine Konsequenz erfährt.
  • Viele Täter_innen-Opfer-Konstellationen rekrutieren sich aus ehemals engen sozialen Beziehungen (Trennungssituation). Gerade hier würde sich die Teilnahme an Täterprogrammen anbieten. Nur eine geringe Anzahl der Tätergruppe „Stalker“ wendet sich hilfesuchend an Einrichtungen. Selbst nach erfolgter Intervention durch die Polizei oder Justiz bleibt eine freiwillige Teilnahme an Beratungsgesprächen oder Gruppenprogrammen die Ausnahme. Meist erfolgt der Weg über die Staatsanwaltschaft und Strafgerichte zu qualifizierten Einrichtungen. Dabei handelt es sich lediglich um eine geringe Anzahl von Stalker_innen, die seitens der Justiz angehalten werden, eine geeignete Institution zur Bearbeitung ihres Stalking-Verhaltens aufzusuchen. Dadurch gehen vermutlich zielführende Maßnahmen im Sinne eines präventiven Opferschutzes (explizit in Artikel 34 Istanbul Konvention „Nachstellung“ aufgeführt) verloren, obwohl geeignete Beratungs- und Trainingsprogramme für Stalkende vorgehalten werden.
  • Die Sanktionen belaufen sich meistens auf Geldstrafen, die die Täter_innen entweder nicht bezahlen können oder sie nicht beeindrucken. Hier sind andere Maßnahmen wie z.B. Beschlagnahme des Tatwerkzeugs in Betracht zu ziehen.
  • Die Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz müssen besser mit dem Strafrecht synchronisiert werden. Stalking darf nicht erst über den Umweg der Strafbarkeit nach § 4 des GewSchG sanktioniert werden.
  • Über allem muss die Aus- und Fortbildung qualifizierter Polizeikräfte, Sonderstaatsanwält_innen und Richter_innen stehen.
  • Insgesamt bedarf es einer Durchbrechung der Stereotypen und der Schärfung des gesellschaftlichen Bewusstseins zum Phänomen Stalking.

 

Beteiligung der Verbände

Viele Verbände sind in die Befragung/Verbändebeteiligung nicht einbezogen worden.

Wir bedauern, dass die Verbände, insbesondere die psychosoziale Beratungspraxis, nicht in die Evaluation einbezogen werden, da gerade hier die Auswirkungen der Gesetzesänderung eher feststellbar sind als durch eine Befragung – nur - der staatsanwaltschaftlichen und strafgerichtlichen Praxis. Geht man von den oben berichteten Feststellungen einer schon im Rahmen des Ermittlungsverfahrens abgebrochenen Verfolgung von Stalking aus, werden die Ergebnisse zwingend das „Dunkelfeld“ bzw. die negativen Erfahrungen ausblenden.

 

Dorothea Hecht

Referentin Recht

Berlin