„Mitarbeitende von Gerichten und Jugendämtern hegen Vorurteile gegen Mütter. Dies schwächt den Schutz der Kinder, wie eine neue Studie zeigt.“[1]
„Das staatliche System, das die Kinder schützen soll, wirkt als Verstärker von Macht und Kontrolle.“[2]
„Mein Sohn und ich waren Opfer des Sorgerechtsstreits. Nach seinem Tod nicht mehr, sagt Harkan D.“[3]
Bereits 2022 sorgte Dr. Wolfgang Hammer[4] mit seiner Studie Familienrecht in Deutschland – Eine Bestandsaufnahme für Schlagzeilen in der Presse und Diskussionen in der Fachwelt[5], da er in einer umfassenden Aktenanalyse von Fällen, die vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wurden, die Aushebelung des Gewaltschutzes durch das Umgangsrecht sowie die Missachtung von Kinder- und Frauenrechten im Kontext familiengerichtlicher Entscheidungen offenlegte. Ende vergangenen Jahres veröffentlichte er erneut zum Thema. Dieses Mal jedoch fokussiert er sich auf eine mediale Fallanalyse mittels qualitativer und quantitativer[6] Auswertung von Presseberichten.
Die Forschungsfrage lautete, „wie mit Kindern und Müttern im Kontext Jugendamt und Familiengericht umgegangen [wird] und ob es bei den besagten Institutionen Entwicklungen gibt, die dem Schutz von Kindern und Müttern entgegenstehen.[7] Das Forschungsinteresse galt den Narrativen, die dazu beitragen, dass sich Mütter und Kinder, Mechanismen von Macht und Kontrolle im familiengerichtlichen Verfahren ausgesetzt sehen.[8]
Es wurden 154 familienrechtliche Fälle ausgewertet, über die hiesige Medien zwischen 2008 und 2024 berichtet haben. Darunter sind 19 Fälle, bei denen Kinder und Mütter im Zusammenhang mit Sorge- und Umgangsrechtsverfahren getötet wurden.
„Systematische Täter-Opfer-Umkehr“
Die Befunde zeigen ein für Mütter und Kinder verheerendes Muster: In Jugendämtern und Familiengerichten führe die vorurteilsgeleitete Grundannahme einer sog. Eltern-Kind-Entfremdung, bezeichnet als PAS[9], welche als wissenschaftsfremde Ideologie zu bezeichnen sei, in der Praxis dazu, dass Kinder und Mütter als Gewaltopfer kein Gehör finden. Dabei wird Müttern vorgeworfen, sie würden intentional ihre Kinder manipulieren, damit sie ihre Väter ablehnten.
So werden in 147 der 154 analysierten Fälle Begriffe wie „Bindungsintoleranz“, „Entfremdung“, „Mutter-Kind-Symbiose“ oder behauptete (widerlegte) „psychische Störungen der Mutter“ vom Familiengericht zur Begründung von Inobhutnahmen, Heimunterbringungen, Umplatzierungen oder von Zwangsvollstreckungen unter Gewaltanwendung gegen Kinder, Zwangswechselmodellen und Umgängen unter Zwang herangezogen.
Mütter und Kinder erführen statt Schutz eine Fortsetzung des Macht- und Kontrollverhaltens der Väter durch die Institutionen, die sie eigentlich schützen müssen. Es käme somit zu einer „systematischen Täter-Opfer-Umkehr“[10]. Sobald bestimmte Vorannahmen gegenüber Müttern in familienrechtlichen Verfahren angewendet würden, bestehe für Kinder und Mütter „kaum eine Chance“, dieser Deutungsschablone zu entkommen.
Reform des Kindschaftsrechts reicht nicht aus
Die Auswertung von Investigativrecherchen, Falldokumentationen sowie fachbezogenen Beiträgen zeichnet ein erschütterndes Bild über das Ausmaß der „eklatanten Mängel in der familiengerichtlichen Praxis“[11]. Dabei beschreibt Hammer die Vorgehensweise von Jugendämtern sowie Rechtsprechung von Familiengerichten als „Black Box“ und spricht von einer „Krise des Familienrechts in Deutschland“[12].
Aus seiner Sicht ist eine Aufarbeitung des Geschehens unabdingbar und neben der dringenden Reform des Kindschaftsrechts gehen seine Empfehlungen und Forderungen wesentlich weiter: Rechtstatsachenforschung, valide Datenerhebung, aber auch eine Aufarbeitungskommission unter Beteiligung Betroffener, Wissenschaft und Praxis, die Einsetzung eines Sonderausschusses oder einer Enquetekommission werden gefordert, bis hin zu Entschädigungszahlungen für Betroffene. Hammer fordert eine sofortige Untersuchung und gründliche Aufarbeitung der Lage durch die Politik. Er mahnt:
„Die bestehende Praxis in Familiengerichten und Jugendämtern gefährdet das Vertrauen in unsere rechtsstaatlichen, demokratischen Institutionen nicht nur heutiger Erwachsener, sondern auch der heranwachsenden Generationen. Sie gefährdet konkret Kinder und Mütter – und im Großen den Bestand unserer Demokratie.“.
Selbst für Fachkräfte aus dem Gewaltschutz, die mit der Problematik vertraut sind, dürfte das Lesen der umfangreichen Materialsammlung und die Konkretion der dargestellten Schicksale schwer aushaltbar sein: Aus so gut wie allen Bundesländern und einer Vielzahl an Medien[13] werden die Schicksale von Kindern und Müttern nachgezeichnet und ausgewertet. Es ist von Kindesentführungen, Femiziden, Infantiziden im Kontext von Trennung und Scheidung die Rede:
„Beschrieben wird, wie Kinder verzweifelt schreien und sich wehren, wenn sie aus Schulen geholt oder ihren Müttern weggenommen werden, wie sie in langer Heimunterbringung Depressionen und suizidale Gedanken entwickeln, wie sie mit ansehen mussten, wie ihre Mutter erstochen oder mit abgetrennten Gliedmaßen im Müll entsorgt wurde. Die Berichte seien „Dokumentationen des Grauens“, so Studienautor Hammer – dennoch zeigten sie nur die „Spitze des Eisbergs“. Denn Medien berichteten über Familienrechtsfälle meist auf Initiative von Betroffenen. Die wiederum würden sich aus Angst vor negativen Folgen häufig gar nicht erst an sie wenden.“[14].
Stilistisch beschränkt sich der 133 Seiten starke Bericht auf eine Zusammenstellung und Clusterung von Fallbeispielen mit einer einleitenden Kontextualisierung vorab[15]. Insbesondere die 40 Seiten umfassende Fallanalyse besteht überwiegend aus Medienberichten und Zitaten und wird kaum seitens des Autors kommentiert. Die Auswahl und starke Verdichtung des Materials dient dabei dem Herausarbeiten von Mustern.
Weiterer Beleg für Ausmaß von Folgen fehlender Sensibilierung
Dies führt mitunter dazu, dass fachspezifische Differenzierungen, z.B. zwischen Hochstrittigkeit und häuslicher Gewalt, Kinderschutz und Frauengewaltschutz, legislativen und exekutiven Verbesserungsbedarfen in den Hintergrund treten. Zum Teil ist schwer zu erkennen, in welchem Verhältnis Material und Interpretation zueinander stehen, was jedoch nicht den Tenor und die Pointierung, Zuspitzung und Dringlichkeit sowie Relevanz seiner vorgelegten Erkenntnisse schmälert. Hammers Befund fällt deutlich aus:
„Aufgrund von Einstellungen, Meinungen und ideologischen Zielrichtungen wird systematisch und inzwischen auch systemisch Machtmissbrauch betrieben. Systeme, in denen Unrecht geschieht, wachsen zunächst im Verborgenen. Wenn Legislative, Exekutive und Judikative es zulassen, dass rechtsstaatliche Grundsätze infrage gestellt, und Gewaltformen an Kindern und Müttern juristisch legitimiert werden, dann versagt der Staat in seinem Schutzauftrag, der Rechtsstaat erodiert.“[16].
Für Fachpraktiker*innen aus dem Hilfesystem werden die Ergebnisse dieser Analyse wenig neue Erkenntnisse liefern und trotzdem bietet die Untersuchung weitere Belege für Ausmaß und Folgen der fehlenden Sensibilisierung von Familiengerichten für die Motivation von Tätern, Macht und Kontrolle als Fortsetzung mysogyner Nachtrennungsgewalt auszuüben, von der Betroffene regelmäßig berichten.
Bei der Lektüre stellt sich ein Gefühl von Ohnmacht gegenüber einem System ein, das bereits durch eine Vielzahl an Publikationen, Stellungnahmen und Handlungsempfehlungen[17], den Bedarf an einer grundlegenden familienrechtlichen Reform als auch der Umsetzung der Istanbul Konvention (Art.31) verdeutlicht hat.
Zugleich bekräftigt die Analyse den enormen Handlungsdruck und macht deutlich, wie wichtig die Stimme der Betroffenen ist und wieviel Anerkennung dem Engagement der teils jahrzehntelang aktiven Überlebenden geschuldet sein müsste.
Kinder- und Frauengewaltschutz zusammendenken!
Frauenhauskoordinierung e.V. wünscht dieser erschütternden Analyse viele Leser*innen, insbesondere aus den kritisierten Institutionen sowie der Politik. Aber auch für Medienvertreter*innen dürfte sie zur Pflichtlektüre in puncto Sensibilisierung für Machtverhältnisse im familiengerichtlichen Verfahren und bei der Berichterstattung über Nachtrennungsgewalt bei Sorge- und Umgangsverfahren dienen.
Eine einseitige Parteinahme ohne Kenntnis von Täterstrategien und fachlichem Hintergrundwissen ist in diesem Feld schlichtweg kontraproduktiv und reproduziert frauen- und kinderfeindliche Narrative.
Schließlich liefert der Text auch für Fachverbände und Interessensvertretungen für Betroffene wichtige Argumente und Impulse. Er bietet eine systematische und fundierte Grundlage für die Weiterentwicklung von politischen Forderungen im Zusammenhang mit den dringend gebotenen familienrechtlichen Reformvorhaben sowie der kritischen Begleitung der Umsetzung der Istanbul Konvention in Deutschland.
Frauenhauskoordinierung e.V. bedankt sich beim Autorenteam für diesen wichtigen Beitrag zur Fachdebatte, der Ausmaß und Schweregrad der Kinder- und Frauenrechtsverletzungen im Kontext familiengerichtlicher Verfahren pointiert veranschaulicht und darüber hinaus klar veranschaulicht, dass Kinderschutz und Frauengewaltschutz zusammengedacht werden müssen.
Berlin, April 2025
Juliane Kremberg, Referentin „Kinder in Frauenhäusern“
Lesen Sie hier dazu die Stellungnahmen und Forderungen von FHK:
- Gemeinsamer Appell für notwendige Reformen: Zeitgemäßes Familienrecht in den Koalitionsvertrag! - Frauenhauskoordinierung
- Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes von gewaltbetroffenen Personen im familiengerichtlichen Verfahren - Frauenhauskoordinierung
- Stellungnahme von Frauenhauskoordinierung e.V. zum Kindschaftsrechtsmodernisierungsgesetz – KiMoG - Frauenhauskoordinierung
[1]Frauenfeindlichkeit: Vor dem Familiengericht sind nicht alle gleich | taz.de
[2] Hammer (2024), S. 62.
[3] Hammer (2024), S. 98 mit Bezug auf BILD vom 29.4.2024: Vater wegen Mordes an Sohn verurteilt, 13 Jahre Psychiatrie: Vater (47) wegen Mordes an Sohn (7) verurteilt | Regional | BILD.de
[4] Wolfgang Hammer ist seit 2017 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Kinderhilfswerks, war von 2005 bis 2013 Vertreter der Jugend- und Familienministerkonferenz und in Leitungsfunktion in Landesjugendämtern und obersten Landesjugendbehörden (Hamburg) tätig.
[5]Studie zu Umgangsrecht benennt eklatante Mängel im deutschen Familienrecht - Frauenhauskoordinierung
[6] Das methodische Vorgehen bestand in der Auswertung von 269 Quellen mit Hilfe der Analysesoftware MAXQDA.
[7] Hammer (2024), S. 6.
[8] Das Autorenteam hat sich entschieden, die dem Gewaltbegriff zugrundeliegende Motivation der Ausübung von „Macht und Kontrolle“ als übergeordnetes Begriffspaar zu verwenden. Dadurch soll eine Differenzierung des Verständnisses von Gewalt unterstützt werden.
[9] Parental Alienation Syndrom. 2023 hat das Bundesverfassungsgericht das PAS-Konzept als wissenschaftlich widerlegt und nicht valide für die Familiengerichtsbarkeit beurteilt, vgl. AZ 1 BvR 1076/23, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2023/11/rk20231117_1bvr107623.pdf?__blob=publicationFile&v=1
[10]PM-Studie-Macht-u-Kontrolle.pdf
[11] Hammer (2024), S. 5.
[12] Ebd.
[13] Zitiert wird aus lokalen wie überregionalen Zeitungen, klassischer Journalismus wie Investigativ-Recherche, öffentlich-rechtlichen wie auch privaten Medien von der taz bis zur Bild-Zeitung
[14]Frauenfeindlichkeit: Vor dem Familiengericht sind nicht alle gleich | taz.de
[15] Aufbau der Analyse: Vorwort, Forschungsstand und methodisches Vorgehen, Medienberichterstattung, Macht & Kontrolle, Ausblick, Literaturverzeichnis.
[16] Pressemitteilung zur Veröffentlichung der Studie
[17] Nicht abschließende Beispiele: Mundlos (2022); Hedayati (2023); Clemm (2023); Meysen (2022); Deutscher Verein (2022); Howard/Reitzig (2024); Correctiv (2023); GREVIO (2019); DIMR (2023) u.v.m.