Interview: „Es ist krass, wie normalisiert Grenzüberschreitungen für junge Mädchen schon sind“

Interview mit Elena Engster aus dem Projekt „Sicher ans Netz“ (ProMädchen Düsseldorf)

Jugendliches Mädchen steht vor Tafel und schaut auf ihr Handy

FHK: ProMädchen realisiert seit über 10 Jahren das Projekt „Sicher ans Netz“. Worum geht es?

Das Projekt ist vom Jugendamt finanziert und soll die Medienkompetenz von Schüler*innen, insbesondere Mädchen, fördern. Es ist als Präventionsangebot gedacht. Wir gehen mit dem Projekt an Haupt-, Gesamt- und Grundschulen, manchmal auch Gymnasien, und führen dort Workshops zum Thema digitale sexualisierte Gewalt und Medienkompetenz durch.

FHK: An wen richten sich die Workshops?

Wir starten in der vierten Klasse, wo ich auch sagen würde: Es ist noch ein Präventionsangebot. Denn der Gedanke von Prävention ist ja, Wissen zu vermitteln, bevor gewisse Dinge passieren.

Aber sobald junge Menschen Zugriff zu digitalen Medien haben, also z.B. ein Smartphone, kann man eigentlich nicht mehr richtig von Prävention sprechen. Es passiert sehr schnell sehr viel, sobald Zugang besteht.

Je früher das Handy, desto früher sollte Prävention zu dem Thema starten. Unser Angebot geht bis Klasse sieben. Viele Themen wie Cybergrooming und Hate Speech sind da schon eher Intervention, andere wie Sexting werden gerade relevant.

Die Workshops richten sich ausschließlich an Mädchen*. Es ist krass, wie normalisiert Grenzüberschreitungen für junge Mädchen schon sind. Beim ersten Bild eines erigierten Penis‘, das dir ungefragt zugeschickt wird, bist du vielleicht noch geschockt, beim zweiten, dritten merkst du irgendwann nicht mehr, dass das immer noch eine Grenzüberschreitung und Straftat ist. Da ist inzwischen so eine „Ist halt normal“- Einstellung, weil es leider Alltag und Normalität für viele Mädchen ist. Arbeit mit Jungen wäre auch enorm wichtig, aber wir selbst machen Mädchenarbeit und es ist sehr schwer, männliche Kooperationspartner zu finden, die in der Medienpädagogik arbeiten, eine feministische Grundhaltung und Kapazitäten haben.

Zweimal im Jahr bilden wir außerdem Fachkräfte, also Lehrer*innen und Sozialarbeitende, fort. Das halten wir für nachhaltiger, als nur die Seit der Kids zu bespielen, und es gibt eine hohe Nachfrage.

FHK: Ist es leichter die Digital Natives zu erreichen als die erwachsenen Fachkräfte?

Generell gibt es großes Interesse an digitalen Medien und eine Lernoffenheit. Aber oft korreliert Alter schon ein bisschen mit einer gewissen Verdrossenheit gegenüber neuen Anwendungen, dieses: „Jetzt muss ich das auch noch.“ Gerade Gruppen mit älteren Teilnehmenden ermutige ich, selbst mal in die Anwendung zu gehen.

Wenn man verstehen möchte, warum Tiktok und Snapchat trotz all der Gefahren so spannend und wichtig für die Mädchen sind, dann muss man sich dem auch selbst ein bisschen annähern

– und das findet unter jungen Pädagog*innen deutlich öfter statt als in älteren Generationen.

FHK: Was ist der präventive Aspekt des Projekts?

Unsere Arbeit hat viele präventive Aspekte. Eine Methode, die ich sehr schätze, befasst sich mit Selbsterstellung online und gleichzeitig mit Ableismus, Rassismus und Sexismus. Die Mädchen bekommen ca. 15 Bilder und sollen sie gemeinsam auf einer Skala einordnen von „Das Bild geht überhaupt nicht“ bis „Das würde ich auf jeden Fall als Profilbild posten“. Dafür gebe ich am Anfang keinerlei Regeln. Es gibt z.B. Bilder von Menschen mit einer körperlichen Behinderung. Ein paar männliche Poser. Frauen, die freizügig angezogen sind und als PoC gelesen werden, und Frauen, die freizügig angezogen sind und als weiße Person gelesen werden.

Es ist krass, wie sich das bei den Einteilungen spiegelt und wie über Frauenkörper geurteilt wird. Eine Karte ist immer das Schlusslicht mit Kommentaren wie „widerlich“, „Wie sieht die aus? Schlampe!“ etc. Dann reden wir darüber: „Hey, was ist denn der Unterschied zwischen ihr und ihm? Warum habt ihr den Typen, der oberkörperfrei mit einer Knarre posiert, oder das Kleinkind, das sich Alkohol reinzieht, besser bewertet, als ein Mädchen, das in Unterwäsche posiert, ohne dass man ihr Gesicht sieht?“

Frauen wird in unserer Gesellschaft nur winziger Spielraum gelassen, was als ok gilt. Das spielt eine große Rolle bei Hate Speech, wo die Teilnehmerinnen nicht nur Opfer sind, sondern auch Täterinnen. Die Übung macht ganz viel mit dem Bewusstsein für solche Ungleichheiten im digitalen Raum. Das kann viele Themen aufmachen und vermittelt auch Informationen über Recht am Bild, Selbstbestimmung etc.

Bei dieser Methode erlebe ich aus feministischer Sicht die stärksten Momente, wo ich merke: Da hat es gerade einen Schalter umgelegt.

FHK: Wie kann man sich die Workshops in der Praxis vorstellen?

Es ist ein vierstündiger Workshop. Davon werden uns für alle Schulen in Düsseldorf zusammen 13 finanziert. Das heißt, wir können nicht alle Schulen bespielen und wir haben auch keine wiederkehrenden Termine. Allein zu Tiktok könnte ich einen ganzen Workshop füllen, einen nur zur Selbststärkung usw. Ich würde das gern modular gestalten, schauen, welche Bedürfnisse und Themen gerade vor Ort wichtig sind, und dann mit dem passenden Modul auf die Klasse antworten. Aber dazu fehlen Zeit, Raum und Kapazitäten. Das ist etwas frustrierend, weil ich nicht alles behandeln kann, was wichtig ist.

Nachhaltiger wäre natürlich ein wiederkehrendes Angebot. Wir versuchen, an den Schulen über die Jahre immer wieder Workshops mit unterschiedlichen Schwerpunkten reinzubringen. Aber die Schulen wollen auch oft erstmal ihren Stoff durchbringen und nicht so viel für „Extrathemen“ opfern. Andererseits fehlt es auch an Anbieter*innen, die das durchführen können. Daher auch unsere Multiplikator*innenschulung: Wir hoffen, dass die Fachkräfte einen Anstoß bekommen und das Thema weiter im Blick haben.

FHK: Bei welchen Themen stellt ihr besonders große Bedarfe fest?

Ein Thema ist auf jeden Fall (Cyber)Mobbing, besonders in Klassenchats. Das sind Orte, da passiert wahnsinnig viel Schlimmes, das ist gefühlt der Wilde Westen.

Die Lehrer*innen dürfen teilweise nicht in die Chat-Gruppen, nutzen sie aber, um Informationen zu teilen. Da hat man meines Erachtens auch eine gewisse Verantwortung. Das ist ein ganz großes Thema, wo viele selbst schon unterschiedliche Positionen eingenommen haben – Täter*innen, Opfer und Mitläufer*innen – und sich einfühlen können.

Dann das Thema Selbstbild und Medien. Tiktok vermittelt wie die meisten Medien eine gewisse Schönheitsnorm, wie ein Körper auszusehen hat, wie man sich zu kleiden hat. Da gibt es wieder diese hauchdünne Linie von „Das ist sexy und schön“ und „Du bist eine Hure“. Man muss erstmal aushalten, dass einem die ganze Zeit vermittelt wird: Das ist das Schöne und Anzustrebende – aber wenn du das für dich umsetzt, dann bist du Abschaum. Es ist auch eine sehr harte Sprache, die da genutzt wird.

Cybergrooming ist auch ein präsentes Thema. Das findet überall statt, aber bei Snapchat ist es in meiner Erfahrung am gravierendsten.

Die Kinder erhalten schon ab der vierten Klasse Dickpics.

Viel passiert über interaktive Online-Games und Chatnachrichten. Das war durch Corona noch extremer. Da waren die Jugendlichen teils sehr isoliert und Pädokriminelle haben leider ein gutes Gespür dafür, zu merken: Hier chatte ich mit einer Person, die kann ich gut isolieren, die ist vulnerabel, die fühlt sich einsam, und die springt drauf an, wenn ich ihr Komplimente mache.

Wir arbeiten viel mit Haupt-, Gesamt- und Realschulen. Die Klassismus-Komponente und sozioökonomische Milieus spielen da schon eine Rolle. Auf dem Gymnasium haben Kids tendenziell eher ein Umfeld, das ein bisschen mehr aufpasst.

FHK: In dem Alter müsste man ja auch die Eltern fragen, um Anzeige zu erstatten…

Großes Thema! Man kann zwar auch anonym Sachen melden, aber die Erfolgsquote ist dann sehr niedrig. Oft werden ja eigene vertrauliche Bilder herumgeschickt. Da wissen die Eltern meist nicht, dass man sich überhaupt schon öffnet für sexuelle Erfahrungen. Weil man für eine Anzeige die erziehungsberechtigte Person mit zur Polizei nehmen müsste, wollen viele lieber gar nichts machen. Oft höre ich: „Wenn meine Eltern das erfahren, wird mir mein Handy weggenommen.“ Das ist eine Riesenhürde. Deswegen wäre es auch gut, bei Eltern anzusetzen, wie man einen konstruktiven Umgang mit der Mediennutzung der Kinder findet.

FHK: Was bräuchte Prävention, damit sie nachhaltig wirkt?

Regelmäßigkeit und Langfristigkeit wären zentral

– z.B. fünf Termine für eine Klasse über das Jahr verteilt und dann arbeiten wir prozesshaft daran. Es verändert sich so viel. Wenn ich mit einer Klasse am Anfang des Schuljahres einen Workshop mache, sind am Ende des Jahres vielleicht schon völlig andere Themen relevant.

Wichtig wäre auch, dass Menschen, die die Kinder jeden Tag sehen, sensibilisiert werden für dieses Thema. Oft kommt z.B. vor, dass Bilder einer Schülerin in Umlauf kommen, die im Vertrauen gesendet wurden. Da sollten Schulen ein gutes Schutzkonzept erstellen, wie man dagegen vorgeht. Prävention zu digitaler, sexualisierter Gewalt und generell Medienprävention müssten auch aktiver Teil des Lehrplans sein. Besonders jetzt, wo viele Schulen Tablets für alle einführen. Finde ich gut, ist höchste Zeit. Aber da muss man bedenken:

Medienkompetenz ist nicht das gleiche wie Nutzungskompetenz.

Dass ich etwas bedienen kann, weil ich damit aufgewachsen bin, heißt noch nicht, dass ich die Fallstricke kenne. Ich finde es nachlässig, wenn das eine gefördert wird, ohne die andere Komponente mitzudenken.

Und wichtig wäre, dass die Perspektive nicht immer ist: „Mädchen müssen sich vor etwas schützen“, sondern auch: „Wir wollen keine Täter*innen heranwachsen lassen“. Genau das meint ja Prävention.

 

Das Interview entstand im Rahmen der FHK-Fachinformation „Prävention. geschlechtsbasierter Gewalt nachhaltig entgegenwrken“ (2023)


Zur Gesprächspartnerin: Elena Engster, 28, arbeitet seit Dezember 2020 bei Pro Mädchen. Sie ist Teil des Geschäftsführungsteams, im Mädchentreff als Sozialpädagogin tätig und befasst sich besonders mit Medienpädagogik. Im Rahmen des Projekts „Sicher ans Netz“ gibt sie Workshops an Schulen und Fortbildungen für Multiplikator*innen.

Über Pro Mädchen:Als anerkannter Träger der freien Jugendhilfe macht sich ProMädchen – Mädchenhaus Düsseldorf e.V. in Düsseldorf seit 1989 für Mädchen und junge Frauen stark. Der Verein unterhält eine Beratungsstelle, den offenen Mädchentreff „Leyla“, die anonyme Schutzeinrichtung „Zuflucht“ und die Inklusionsstelle. Des Weiteren bietet ProMädchen vielfältige Prävention – etwa zu (digitaler) Gewaltprävention, Liebe und Sexualität oder Essstörungen – an Düsseldorfer Schulen an.