Bevor das Gesetz „Organic Act 1/2004“ Ende 2004 verabschiedet wurde, ein Pioniergesetz mit einem umfassenden Ansatz zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen, gab es in Spanien kaum staatliche Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen. Ein Gesetz, das Schutzanordnungen bei häuslicher Gewalt regelt, gibt es überhaupt erst seit 2003.
Mit der Verabschiedung des „Organic Act 1/2004“ ging ein Paradigmenwechsel einher: Wurde geschlechtsspezifische Gewalt zuvor als „Privatsache“ betrachtet, welche „hinter verschlossenen Türen“ innerhalb der Familie gelöst werden müsse und daher keine staatliche Intervention erfordere, wird sie seitdem als gesellschaftliches Problem anerkannt. Geschlechtsspezifische Gewalt wird als Ausdruck von Diskriminierung, Ungleichheit und ungleichen Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen und als Gewaltform, die sich spezifisch gegen Frauen aufgrund ihres Frauseins richtet, definiert (Präambel des Gesetzes). Allerdings bleibt der Anwendungsbereich des Gesetzes beschränkt: Geschlechtsspezifische Gewalt wird darin ausschließlich als Gewalt definiert, die von (ehemaligen) Partnern an Frauen verübt wird, andere Formen der Gewalt gegen Frauen sind davon ausgenommen.
Ziel des Gesetzes ist es, geschlechtsspezifische Gewalt durch umfassende Schutzmaßnahmen zu bekämpfen – mit dem Ziel, diese Gewalt zu verhindern, zu bestrafen und zu beseitigen, sowie Frauen und Kinder zu unterstützen (Artikel 1). Ein zentraler Aspekt ist der ganzheitliche Ansatz, der Prävention, Schutz und Strafverfolgung innerhalb eines Rahmens von koordinierten Maßnahmen vorsieht, um eine effektive Handlungskette zu gewährleisten. Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Anerkennung einer breiten Palette von Rechten für Betroffene, welche das Recht auf Information und auf spezialisierte umfassende Unterstützung wie etwa unentgeltliche Rechtsberatung und medizinische Versorgung umfasst.
Das Gesetz verankert zudem arbeitsrechtliche und ökonomische Rechte, soziale Leistungen und inzwischen auch das Recht auf Wiedergutmachung. Als Folge dieser Bestimmungen wurde ein breites Netz spezialisierter Unterstützungsdienste aufgebaut, darunter Krisenzentren, Schutzunterkünfte und langfristige Aufnahmeeinrichtungen. Als Teil der spezialisierten Unterstützung und ergänzend dazu schuf das Gesetz fachspezifische Organe zur Unterstützung, darunter eigens eingerichtete Gerichte, Staatsanwaltschaften, forensiche Spezial- und Polizeieinheiten.
Das Gesetz enthält auch Richtlinien zur Strafverfolgung der Täter, vor allem strafrechtliche Maßnahmen wie Schutzanordnungen, die beispielsweise das Betreten bestimmter Orte und Städte oder das Annähern oder die Kontaktaufnahme zur betroffenen Person verbieten und auch die Räumung der gemeinsamen Wohnung oder die elektronische Überwachung beinhaltet. Außerdem wurde das Monitoringsystem VIOGEN entwickelt, ein wahrscheinlichkeitsbasiertes Instrument zur Risikoeinschätzung von Betroffenen, welches deren Schutz koordiniert und Schutzanordnungen überwacht. Es bringt alle relevanten Akteur*innen des Opferschutzes zusammen und integriert die Informationen, die für eine wirksame Risikoeinschätzung und Schutzmaßnahmen notwendig sind.
Im Bereich der Prävention enthält das Gesetz Maßnahmen für die Bereiche Bildung, Gesundheit und Medien, z.B. Präventions- und Früherkennungsprotokolle in Schulen und im Gesundheitswesen, Sensibilisierungskampagnen in den Medien sowie die Entfernung sexistischer Inhalte in Medien und Werbung. Als tertiäre Präventionsmaßnahme sieht das Gesetz Programme zur Täterarbeit vor, um weitere Gewalt zu verhindern.
Das Gesetz „Organic Act 1/2004“ sah ursprünglich vor, dass gewaltbetroffene Frauen, um die darin verankerten Rechte in Anspruch nehmen zu können, entweder eine Schutzanordnung oder ein Urteil gegen den Täter vorlegen mussten. In der Praxis bedeutete dies, dass ein formeller Antrag – entweder von der Betroffenen selbst oder einer anderen Person – erforderlich war, um die vollen Rechte und Leistungen zu erhalten.
Diese Hürde erwies sich schnell als Belastung für Betroffene und wurde von feministischen Organisationen und Expert*innen als großes Hindernis kritisiert. Das Gesetz wurde dahingehend geändert, dass eine Beurteilung der Gewaltsituation auch durch spezialisierte Beratungsstellen möglich ist. Für einige Rechte – wie etwa Zugang zu Sozialwohnungen – ist jedoch weiterhin eine Schutzanordnung oder ein Gerichtsurteil erforderlich.
Die Koordinierung der Maßnahmen ist ein zentrales Prinzip des Gesetzes (Artikel 2) und wird auch als Recht der Betroffenen anerkannt. Das Gesetz unterstreicht hierfür die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen spezialisierten Beratungsstellen, Polizei, Gerichten, Gesundheitsdiensten und kostenloser Rechtsberatung (Artikel 19.4) sowie insbesondere zwischen den Sicherheitsbehörden, um die Umsetzung von Gerichtsbeschlüssen zu gewährleisten (Artikel 31). Durch Kooperationspläne und Prozedere sollen Aufgaben, Zuständigkeiten und Verfahren klar definiert werden (Artikel 32).
Als Ergebnis dieser Bestimmungen wurde eine föderale, ressortübergreifende Koordinierungsstruktur etabliert, etwa durch die Regierungsdelegierte für Gewalt gegen Frauen (zuständig für die übergeordnete Koordinierung der nationalen Politik), örtliche Koordinierungsmechanismen gegen geschlechtsspezifische Gewalt und regelmäßige, sektorenübergreifende Fallkonferenzen. Ziel ist, den Informationsaustausch, die Zusammenarbeit und die kontinuierliche Verbesserung der Schutzmaßnahmen zu garantieren. Die Stärke des spanischen Modells liegt in seinem ganzheitlichen und koordinierten Ansatz – mit Maßnahmen auf mehreren Ebenen, die Prävention, Schutz und Strafverfolgung verbinden und die Verantwortlichkeiten verschiedener Akteur*innen und Institutionen klar regeln.
Doch auch 20 Jahre nach Inkrafttreten sind noch nicht alle Bestimmungen umgesetzt. Systemische Mängel führen bis heute zu Retraumatisierungen von Betroffenen und institutioneller Gewalt, was die mangelnde Umsetzung durch die beteiligten Institutionen offenbart. Ein weiteres Defizit ist, dass es weder ein systematisches Monitoring noch eine Evaluierung der gesetzlichen und politischen Maßnahmen gibt, was die Rechenschaftspflicht des Staates einschränkt.
Trotz dieser Defizite bietet das Gesetz einen soliden Rahmen für den Schutz von Frauen – feministische Organisationen werden weiterhin für dessen vollständige Umsetzung kämpfen.
Text: Virginia Gil, Direktorin der Organisation „Fundación para la Convivencia ASPACIA“
Übersetzung: Noah Petri, Referent für das Projekt „Zugang für ALLE Frauen" bei Frauenhauskoordinierung e.V.
Foto: Solidarity in Safe Spaces - Laura Volgger
Dieser Text ist ein Artikel aus unserer Fachinformation 2025 „Gewaltschutz und (Hoch-)Risikomanagement".





















