"Una Primavera": Doku über häusliche Gewalt

"Ich wollte meiner Mutter eine Stimme geben"

07:35 Minuten
Rückansicht einer Frau, die mit mehreren Taschen Richtung eines Ausgangs geht.
40 Jahre Ehe hielt Valentinas Mutter aus, bevor sie ihren gewalttätigen Ehemann verließ. © fugu filmverleih
Von Lotta Wieden · 15.01.2020
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Immer wieder vom eigenen Mann zusammengeschlagen: Jahrzehntelang war die Mutter der Regisseurin Valentina Primavera Opfer häuslicher Gewalt. Der Film "Una Primavera" erzählt von ihrem Versuch, spät doch noch ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Eine Frau am Boden: Der Film "Una Primavera" beginnt mit einer Szene, die Fiorella, 58 Jahre alt, Mutter dreier erwachsener Kinder zeigt, auf einer Gäste-Matratze in einer Berliner Wohnung - erschöpft und verzweifelt.
Nach 40 Jahren Ehe hat sie alles hinter sich gelassen: ihren Mann, Kinder, Enkel, Mutter, Geschwister, ihre Hunde, das milde Klima Mittelitaliens – und natürlich das große Haus in der malerischen Landschaft der Abruzzen. Ein Haus, das sie einst selbst entworfen hat und über Jahrzehnte gemeinsam mit Ehemann Bruno abzahlt – bis sie dessen Demütigungen und Schläge nicht mehr erträgt:
"Selbst meine eigene Mutter hat zu mir gesagt: Du darfst ihm eben nicht widersprechen! Ich war 19, frisch verheiratet, im zweiten Monat schwanger, zusammengeschlagen. Und mein Mann zwingt mich, mit den Schwiegereltern Karten zu spielen. Und alle spielen Karten, als ob nichts passiert wäre. Und meine Mutter, meine Schwiegermutter – alle sagen: du solltest eben keine Widerworte geben! Was wusste ich denn? Mit 27 hatte ich drei Kinder. Niemand hat mir irgendwas gesagt! Ich hab alles ertragen! ich wollte meiner Familie keine Schande machen."

Der Ehemann zwischen Scham und Selbstmitleid

Zwei Monate lebt Fiorella in Berlin bei ihrer jüngsten Tochter Valentina, dann kehrt sie zurück nach Italien, um die Scheidung einzureichen, allein zu leben. Bei diesem Versuch hin zu einem selbstbestimmten Leben, einem Leben in Freiheit, begleitet Valentina ihre Mutter mit der Kamera.
Sie nimmt uns mit zum Gebäude der Gerichtsverhandlung am Tag des Scheidungstermins – noch am Morgen hat Fiorella Stunden damit verbracht, sich immer wieder umzuziehen: Was trägt man, wenn 40 Jahre Ehe zu Ende gehen? Wir erleben, wie Fiorellas neues Leben, allein in der Stadt, nicht nur Freiheit, sondern auch Einsamkeit mit sich bringt. Und wir sind Zeugen, wenn Fiorella Monate später erstmals wieder ihr altes Zuhause betritt, das große zweistöckige Landaus, indem Ehemann Bruno bei ihrer Ankunft weinend vor Scham und Selbstmitleid zusammenbricht.
"Ich wollte verstehen, wieso man sich schämt, wieso man schweigt und wieso man nicht darüber spricht", sagt Regisseurin Valentina Primavera. "Da die Familie so heilig ist, ist es so schwierig die Familie in Frage zu stellen, und das ist aber genau, was da passieren muss."

Patriarchale Strukturen leben immer noch

Die große Stärke des Films sind denn auch seine unerbittlichen Fragen, die intimen Einblicke, Szenen einer dysfunktionale Ehe, die Valentina Primavera in ihrer Doppelrolle als Filmemacherin und Tochter quasi aus erster Hand zu geben vermag. Zweifellos wandelt sie dabei auf schmalem Grat: nah an den Beteiligten dran sein, ohne sie vorzuführen. Eine Balance, die vor allem deshalb gelingt, weil Primavera uns immer wieder in solche Abgründe blicken lässt, die über die Geschichte der eigenen Eltern hinaus weisen, Universelles zu erzählen haben. Zum Beispiel über die zutiefst patriarchalen Strukturen, die viele Familien- und Paarbeziehungen noch immer prägen:
"Langsam ist mir klar geworden, dass nicht nur meine Eltern das Problem haben, sondern ganz viele Familien. Und da habe ich mich dafür entschieden, das Thema in die Öffentlichkeit zu geben."
Una Primavera ist ein mutiger Film. Er geht dahin, wo es weh tut: So erleben wir etwa, wie sich Fiorella vom Mann ihrer ältesten Tochter belehren lassen muss, dass Weglaufen keine Lösung sei und sie die Probleme mit ihrem Mann besser unter Kontrolle kriegen müsse. Überhaupt… die Männer! Entweder sie schweigen oder sie stehen, wie auch Fiorellas Schwager, auf der Seite des gewalttätigen Ehemanns: Sieben Monate allein in dem großen Haus – habe er für seine Vergehen inzwischen nicht mehr als bezahlt?
"Ich meine, er hat genug gelitten. Und er hat sich seither zurückgehalten. Wir sollten ihn dafür bewundern. Er hat seinen Fehler schließlich eingesehen. Und nur um das klarzustellen, Fiorella: Ein Mann muss Charakter zeigen!! Wenn du - wie Mussolini zu sagen pflegte - wählen musst, zwischen einem Lamm und einem Löwen, wähle den Löwen!"

Am Ende bleibt sie doch

Es sind solche Sätze, die einen resigniert den Kopf schütteln lassen. Wenn man begreift, dass für die Mehrheit der männlichen Familienmitglieder, aber auch für viele Frauen, erst dann ein Problem existiert, als Fiorella ihren Mann verlässt, die Verantwortung für das Auseinander-brechen der Familie ganz allein ihr angelastet wird. Noch bitterer der Moment, in dem klar wird, dass Fiorella nach acht Monaten der Trennung doch wieder zurückkehrt in das gemeinsame Haus. Sie hat ein Recht darauf. Schließlich hat der Scheidungsrichter ihr das obere Stockwerk zugesprochen. Bruno soll unten leben.
"Also der Punkt ist wirklich nicht zu beurteilen, was sie am Ende macht und ob es richtig oder falsch ist", sagt Valentina. "Mein Ziel war, meiner Mutter eine Stimme zu geben! Frauen, die in solchen Zuständen sind, und vor allem, wenn es schon so lange geht, da es gibt so ein Schamgefühl. Man ist überzeugt, dass keiner, kein Mensch, Interesse daran hat, was ihre Geschichte ist. Und das war für mich extrem wichtig, dass sie versteht: ich will einfach wissen, wie es dir geht, und was du möchtest."
Ein Frau mit braunen, lockigen Haaren schaut über ein Kamerobjektiv.
Valentina Primavera ist mit ihrer Dokumentation ein Film gelungen, der dahin geht, wo es wehtut.© fugu filmverleih
Blaue Flecken, frische Wunden oder blind dreinschlagende Männer sieht man keine in diesem Film. Nur einmal, während einer Autofahrt – Bruno sitzt am Steuer – bekommt man eine Ahnung davon, wie schnell die Emotionen hochkochen, Situationen eskalieren.
Du willst doch alles nur kaputt machen, wirft Bruno seiner Tochter vor. Die Aufgabe von euch Kindern wäre es, die Familie wieder zusammenzubringen!
Wer hat sie denn auseinandergebracht, fragt Valentina zurück.
- Ich, und ich nehme die Schuld auf mich. Aber ein Mensch kann sich ändern! Was ist denn groß passiert? Niemand ist gestorben, nichts wurde niedergebrannt.
- Ach, dann können wir uns also noch glücklich schätzen, dass wir nicht noch auf eine Beerdigung fahren mussten, ja?
- Du mit deinem kranken Kopf, du hast keine Kinder, du wirst das nie verstehen!
- Schau, wie schlecht er wieder über seine eigenen Kinder redet, klagt Fiorella auf der Rückbank. Und Bruno antwortet:
- Valentina, du bist ein Verbrecher!

"Ich wünsche mir, dass Rollenbilder geändert werden"

Später im Interview erzählt Valentina Priamvera, dass ihr durch die Arbeit am Film klar geworden sei: Es reiche nicht, das Thema häusliche Gewalt an die Öffentlichkeit zu bringen. Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, müssen wir uns mit den Mustern von Gewalt beschäftigen – und darüber reden:
"Ich wünsche mir, dass Rollenbilder geändert werden. Ich wünsche mir, dass einfach schon in der Erziehung von Kindern schon anders über Beziehungen gesprochen wird. Dass Gewalt thematisiert wird. Ich wünsche mir, dass man viel mehr fragt: Was bedeutet Gewalt und wo fängt Gewalt an? Und welche Mittel haben wir zur Verfügung? Wie kann sich meine Mutter emanzipieren, in welcher Gesellschaft, in welchen Kontext ist das möglich? Und das gilt auch für meinen Vater: Wie soll er über sich denken und wo soll er die Mittel holen, um eine ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst zu haben, so dass er ein anderer Mensch werden kann."
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