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Panorama Ihre Gegner haben viel Geld

Russlands Frauen wehren sich gegen häusliche Gewalt

Russlands Frauen bekämpfen Gewalt-Mythos Russlands Frauen bekämpfen Gewalt-Mythos
Teilnehmerinnen einer Demonstration zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen
Quelle: dpa/Sergey Mamontov
Zu Tausenden töten Männer in Russland jedes Jahr ihre Frau. Viele Russinnen begehren nun gegen häusliche Gewalt auf. Es gibt sogar ein Gesetz, das Schläge in der Partnerschaft entkriminalisiert. Aber die Frauen haben mächtige Feinde.

Die immer deutlicheren Morddrohungen lassen Oxana Puschkina an ihrem Arbeitsplatz in Moskau nicht los. Die Starjournalistin sitzt aufgekratzt vor einem ganzen Packen Papier mit deutlichen Warnungen, sie möge die Finger lassen von ihrer Initiative für Russlands erstes Gesetz gegen häusliche Gewalt. „Wir kämpfen hier gegen machthungrige Menschen mit viel Geld, die das Vorhaben stoppen wollen“, sagt die 56 Jahre alte Parlamentsabgeordnete.

Dass in dem Land bei rund 145 Millionen Einwohnern jedes Jahr rund 14.000 Frauen durch die Gewalt ihres Partners sterben, ist gerade das am heißesten diskutierte Thema in der russischen Gesellschaft. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im vergangenen Jahr 122 getötete Frauen – bei rund 83 Millionen Einwohnern.

Häusliche Gewalt treffe auch Kinder – 2000 Todesopfer gebe es jährlich, hebt die Punkband Pussy Riot in einem Videoclip hervor. Die Täter? Männer, die im Suff und aus Frust über ihr schweres Leben in Russland zuschlagen, zutreten und töten. Meist kommen sie ohne Mordanklage davon, wie russische Medien berichten. Männer in Russland behandelten ihre Frau oft wie Eigentum, beklagt die Bewegung Nasiliu.net (Nein zur Gewalt). In den letzten 30 Jahren habe es mehr als 40 Gesetzesvorhaben dazu gegeben – alle gescheitert.

Nötig seien Frauenhäuser und Kontaktverbote für Männer

„Er schlägt dich, also liebt er dich“ – „Bjot, snatschit ljubit“: So lautet ein alter zynischer russischer Spruch, mit dem viele Russinnen aufwachsen. Damit müsse Schluss sein, fordern nicht nur die Aktivistinnen von Pussy Riot. Frontfrau Nadja Tolokonnikowa sagt, dass jede Frau, die getötet werde, sich vorher mindestens einmal an die Polizei gewandt habe. Auf Hilfe können sie aber nicht hoffen. Die Beamten haben keine gesetzliche Handhabe bisher.

Russlands Frauen bekämpfen Gewalt-Mythos
Die russische Starjournalistin und Parlamentsabgeordnete Oxana Puschkina in ihrem Büro in der Staatsduma
Quelle: dpa/Ulf Mauder


40 Prozent aller Verbrechen werden dem russischen Innenministerium zufolge zu Hause verübt, 93 Prozent davon gegen Frauen. International für Entsetzen sorgte da 2017 ein neues russisches Gesetz, das Schläge in der Partnerschaft entkriminalisiert. Die ersten Prügelattacken, die schon tödlich enden können, werden demnach nur wie eine Ordnungswidrigkeit geahndet – mit Geldstrafen etwa. Erst Wiederholungstäter müssen sich nach dem Strafrecht verantworten.

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Inzwischen hätten selbst anfängliche Befürworter erkannt, wie gefährlich das Gesetz sei, sagt die Abgeordnete Puschkina. Mit anderen Abgeordneten kämpft sie nun für das Gesetz, das Mord und Totschlag, Körperverletzung, sexuelle Gewalt, Erpressung und Stalking verhindern soll. Die Idee: Erstmals könnten Frauen oder Zeugen bei häuslicher Gewalt die Polizei rufen, um Unheil abzuwenden.

Puschkina will ein Gesetz wie in anderen Ländern. Nötig seien Frauenhäuser und Kontaktverbote für Männer. Doch gerade das macht sie in den Augen ihrer Kritiker zur „ausländischen Agentin“, die westliches Verderben bringe. Der russisch-orthodoxe Gläubige Andrej Kormuchin wettert im Staatsfernsehen, das Gesetz werde das Familienleben in Russland zur Hölle machen. Der neunfache Familienvater warnt vor einem Untergang des Riesenreichs, wenn etwa Frauen und Kinder nicht mehr gezüchtigt werden können, damit sie spuren.

Eine Kampagne, die mit viel Geld finanziert wird

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Seine orthodoxe Organisation Sorok Sorokow organisiert landesweit Proteste gegen „westliche Satanisten“. Der Geistliche Dmitri Smirnow, im Moskauer Patriarchat zuständig für Familienbelange, wirft den Initiatoren vor, sie wollten einen Hebel schaffen, um Eltern Kinder wegzunehmen und Schwulen und Lesben zu überlassen. Solche Adoptionen sind zwar verboten in Russland. Puschkina findet sich trotzdem auf einem Propagandaplakat als Ikone einer Regenbogenfamilie wieder.

„Die Propaganda wirkt leider. Es ist eine Kampagne, die mit viel Geld finanziert wird“, sagt Puschkina vor dem Stapel mit Hetzschriften und Hassplakaten. Dass sie selbst als Vertreterin der Regierungspartei Geeintes Russland machtlos ist gegen die religiösen Fanatiker, macht sie wütend. „Diese Leute schrecken unter dem Deckmantel kirchlicher Absichten nicht einmal vor staatlichen Strukturen zurück“, sagt sie.


Puschkina hat jahrelang im Fernsehen Sendungen für Frauen moderiert – und immer wieder massenhaft Briefe mit persönlichen Schicksalen erhalten. „Deshalb habe ich mich für die Politik entschieden“, sagt sie. Die Zeitung „Nowaja Gaseta“ berichtete, dass Frauen, die Widerstand leisteten, sich nicht auf Notwehr berufen könnten. Die Urteile ergingen immer wieder wegen Mordes. In über 90 Prozent der Fälle hätten Frauen ihren Partner mit dem Küchenmesser getötet. In Moskau warten gerade drei junge Schwestern auf ihren Prozess, weil sie ihren Vater nach jahrelangen Misshandlungen erstochen hatten.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sieht einen gesellschaftlichen Wandel in Russland. Sie forderte die Initiatoren des historischen Gesetzes auf, sich nicht einschüchtern zu lassen. Puschkina ist entschlossen, weiterzukämpfen für einen besseren Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt. Erleichtert reagierte sie, als Regierungschef Dmitri Medwedjew nun Handlungsbedarf einräumte. Medwedjew sagte, der Mythos, Schläge seien ein Zeichen von Liebe, sei überholt und passe nicht mehr in das 21. Jahrhundert.

dpa/coh

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