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Häusliche Gewalt: Frauenhäuser an der Belastungsgrenze

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Hessenweit fehlen 800 freie Plätze in Frauenhäuser. Fachleute sprechen von einer „skandalösen Unterfinanzierung“.
Hessenweit fehlen 800 freie Plätze in Frauenhäuser. Fachleute sprechen von einer „skandalösen Unterfinanzierung“. © iStock

Die Gefahr, in der Pandemie Gewalt zu erfahren, ist für Frauen und Kinder besonders groß. Es fehlen Tausende Frauenhausplätze, Geld und Mitarbeiterinnen.

Leila erinnert sich gut an die Nacht, in der sie Jamal das erste Mal verlassen wollte. Es ist nach Mitternacht, Tochter Malika schläft in der Einzimmerwohnung. Jamal fährt Leila aggressiv an. Sie solle ihre Sachen packen und fortgehen, die Tochter bleibe hier. Er zieht das Kind an seine Brust. Bitte, gib mir meine Tochter, fleht Leila. Wo soll ich hin?

Leila hat Angst. Sie packt Klamotten in ihren Koffer, damit er nicht nervös wird und der Tochter etwas antut. Jamal steht auf, erinnert sich Leila, geht zur Küchenzeile, murmelt: Jetzt weiß ich, was ich mit dir machen werde. Leila nutzt den Moment, packt die Tochter und rennt ins Bad. Sie schließt die Tür ab und ruft die Polizei.

Häusliche Gewalt in Deutschland: Viele Frauenhäuser verfügen nicht über genügend Plätze

Leilas Geschichte stützt sich auf Gespräche mit ihr, einer Mitarbeiterin des Frauenhauses, einer Freundin und Angaben der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Wir haben uns entschieden, Leilas Namen zu ändern und den mutmaßlichen Täter nicht zu konfrontieren, um Leila und ihre Tochter zu schützen.

Für Frauen, die psychische Gewalt erleben, ist es oft schwierig, die Taten zu beweisen. Es steht dann Aussage gegen Aussage. Wir konnten die Eckpunkte von Leilas Schilderungen anhand von Gesprächen und Akten überprüfen. Ein Dokument, das Buzz Feed News vorliegt, belegt, dass es einen Einsatz der Polizei gab. Das Ermittlungsverfahren wegen Bedrohung durch den Ehemann wurde wenige Monate später eingestellt.

Schutz vor häuslicher Gewalt: Bundesweit gibt es etwa 370 Frauenhäuser

An diesem Abend versucht die Polizei, Leila und Malika in einem Frauenhaus unterzubringen. Sie soll sich dort erholen, ihr Leben sortieren. Aber alle umliegenden Unterkünfte sind voll. Sie fahren Leila und ihre Tochter zu einer Verwandten. Erst mehr als ein Jahr später, als sich ihre Lage in der Corona-Krise zuspitzt, finden sie Zuflucht in einem Frauenhaus.

In Deutschland gibt es rund 370 Frauenhäuser, in denen Frauen und Kinder unterkommen können, wenn sie Gewalt erlebt haben. Doch es fehlen Tausende Plätze – sowohl nach Kriterien, die der Europarat 2006 aufstellte, als auch nach der Istanbul-Konvention, in der sich Deutschland dazu verpflichtet hat, Frauen besser vor Gewalt zu schützen. Recherchen von Buzz Feed News und Correctiv.Lokal zeigen: Aktuell halten 14 Bundesländer diese Kriterien nicht ein. Nur Bremen und Berlin erfüllen die Anforderungen. Besonders schlecht sieht es im Saarland aus, in Sachsen und in Bayern.

Wichtige Zufluchtsorte: Manche Frauenhäuser mussten hunderte Frauen abweisen

Correctiv.Lokal und Buzz Feed News, das wie die Frankfurter Rundschau zu Ippen.Media gehört, haben eine Umfrage unter 92 Mitarbeiterinnen aus Frauenhäusern in Deutschland ausgewertet. In Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen meldeten mehrere Häuser, dass sie über Monate hinweg voll waren. Einzelne Häuser mussten im vorigen Jahr Hunderte Frauen abweisen. Jede zehnte befragte Mitarbeiterin gab an, dass sie schon einmal eine Frau ablehnen musste, weil Geld fehlte.

Die Mitarbeiterinnen helfen den Frauen oft, einen anderen Platz zu finden. Wenn viel zu tun ist, geben sie Telefonnummern weiter. Eine bundesweite Koordinierung gibt es nicht. Wie viele Frauen bei der Suche den Mut verlieren und beim Täter bleiben? Weiß man nicht. „Das fühlt sich einfach furchtbar an, dass eine Frau darum betteln muss, in einem Frauenhaus aufgenommen zu werden“, sagt Anja Kröber, Mitarbeiterin des Autonomen Frauenhauses Oldenburg, im Gespräch mit Buzz Feed News. Dort mussten im vergangenen Jahr fast fünfmal so viele Frauen und Kinder abgewiesen werden, als aufgenommen werden konnten.

Frauenhäuser sind wichtig, weil Frauen dort Schutz finden, Hilfe bekommen und erfahren: Ich bin mit meiner Not nicht allein. Andere Frauen haben auch Gewalt erlebt und es geschafft, sich vom Täter zu lösen.

Die Serie

Diese Recherche ist Teil einer Kooperation von BuzzFeed News mit Correctiv.Lokal, einem Netzwerk für Lokaljournalismus, das datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalredaktionen umsetzt.
Correctiv.Lokal ist Teil des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv, das sich durch Spenden von Bürgern und Stiftungen finanziert.

Link: correctiv.org/haeusliche-gewalt

Die Frankfurter Rundschau eröffnet damit eine kurze Serie zu Häuslicher Gewalt. Die weiteren Texte erscheinen in loser Folge im Regionalteil. Nächste Woche folgen Berichte zu häuslicher Gewalt in der Kindheit. FR

Dimensionen häuslicher Gewalt: Psychische Abhängigkeiten und Demütigungen

Nachdem Leila mit ihrer Tochter für eine Weile bei der Verwandten untergekommen ist, beschließt sie, Jamal noch eine Chance zu geben. „Er hat geweint, gesagt, bitte komm zurück.“ Laila ist seit zwei Jahren mit Jamal verheiratet, aber erst vor wenigen Monaten aus Marokko zu ihm gezogen. Sie hat keine Freunde hier, spricht kaum Deutsch. In allem, was sie tut, ist sie auf Jamal angewiesen: Sie kann nicht alleine Bus fahren, kein Formular alleine ausfüllen. Das Zusammenleben verläuft in Phasen: Mal läuft es gut, mal beschimpft er Leila wieder als Nutte, faul, wertlos.

Leila arbeitet als Putzhilfe. An einem Tag fällt sie die Treppe herunter, sie hat Blutungen. Im Krankenhaus erfährt sie, dass sie eine Fehlgeburt hat. „Mir ging es nicht gut“, sagt Leila. „Aber er hat mir nicht geholfen.“ Leila erinnert sich, wie er sie immer wieder demütigt und ihr und der Tochter das Essen verwehrt. „Er hat gesagt, du musst arbeiten gehen, selbst das Geld verdienen“, sagt Leila. Malika und Leila sehen dabei zu, wie er sich Brote mit Käse und Mortadella schmiert und darauf schläft. „Ich konnte nicht mehr“, sagt Leila. Unter einem Vorwand geht sie mit Malika zu einer Nachbarin. Dort ruft sie ein Frauenhaus an. Dieses Mal bekommt sie einen Platz.

Zufluchtsort Frauenhaus: „Da ist das ganze Leben aus den Fugen“

Wer in ein Frauenhaus flüchtet, hat kein soziales Netz mehr, das ihn auffängt. „Da ist das ganze Leben aus den Fugen“, sagt Bergelt, die im Frauenhaus Marburg arbeitet. Sie unterstützt die Frauen nicht nur, die Erlebnisse zu verarbeiten, sondern hilft auch: Anträge auszufüllen, eine Wohnung zu suchen, Sprachbarrieren zu überwinden. Man brauche sehr viel Abstand, um nicht aufgefressen zu werden, sagt Bergelt. „Bei jeder Abweisung haben wir im Kopf: Mein Gott, wenn jetzt was passiert, und wir konnten das nicht auffangen.“ Manchmal wollen die Frauen nicht weit wegziehen, etwa weil sie ihre Kinder nicht aus der Schule reißen wollen. Manchmal ist aber auch gerade das sinnvoll: ein Ortswechsel.

Das Leben im Frauenhaus muss man sich wie eine große WG vorstellen. Frauen leben in Einzel- oder Doppelzimmern, teilen sich Dusche, Bad und Küche. Der Alltag kann mühsam sein. Es treffen Personen mit Problemen auf engstem Raum aufeinander. Manche Frauen mussten ihren Job aufgeben. Manche sprechen kein Deutsch, wieder andere führen Prozesse um das Sorgerecht ihrer Kinder. Mal ist der Aufenthalt in einem Frauenhaus kostenlos, so wie in Schleswig-Holstein, mal müssen die Frauen monatlich Geld für die Unterkunft und Betreuung zahlen – im mittleren dreistelligen Bereich. Für manche Frauen übernimmt das Jobcenter die Kosten, andere fallen aus dem System: Rentnerinnen, Auszubildende oder Studentinnen zum Beispiel.

In manchen Unterkünften müssen betroffene Frauen selbst für den Aufenthalt zahlen

„Wir haben auch schon Studentinnen gehabt, wo die Freundinnen zusammengekratzt haben“, sagt die Mitarbeiterin eines Frauenhauses in Hessen, die anonym bleiben möchte, weil sie arbeitsrechtliche Probleme befürchtet. Es habe Fälle gegeben, wo sie nach der dritten Mahnung nicht mehr nachgefragt habe. „Es fühlt sich falsch an, einer Studentin, die Gewalt erlebt hat, wegen 2000 Euro hinterherzurennen.“

Manche Frauen haben weder Bargeld noch Zugriff auf ein Konto. „Es passiert bei uns häufig, dass ich in den ersten Wochen gucke: Wovon kauft die Frau sich und ihren Kindern das Essen?“, sagt die Mitarbeiterin aus Hessen. „Wir haben keinen Nottopf hier, wo ich einfach mal sagen kann: Nimm mal die 100 Euro.“ Sie versuche dann über Tafeln, Lebensmittel zu bekommen.

Frauenhäuser in der Corona-Pandemie: Mitarbeiterinnen berichten von Zunahme der Gewalt gegen Frauen

Die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF) fordert eine bundesweit einheitliche Finanzierung. „Dass wir frei entscheiden können, wen nehmen wir auf“, sagt Britta Schlichting. Auch die Suche nach einem Platz soll leichter werden. Die ZIF arbeitet derzeit an einer Webseite, auf der ein deutschlandweites Ampelsystem alle freien Frauenhausplätze anzeigen soll – finanziert durch Spenden.

Die Corona-Krise hat die prekäre Situation in manchen Häusern verschärft. Mehr als jede vierte Mitarbeiterin gab in der Umfrage an, dass im Vergleich zum Vorjahr mehr Frauen Schutz bei ihnen suchten. Einige Mitarbeiterinnen berichten, dass die Gewalt gegen Frauen zugenommen habe. Einige Bundesländer haben Soforthilfen eingerichtet, Länder und Kommunen schießen Geld zu. Und auch der Bund stellt ein Förderprogramm mit 120 Millionen zur Verfügung.

Nicht nur in Frauenhäusern fehlt es an Plätzen: Auch die Wohnungssuche gestaltet sich als schwierig

Der Weg zurück in ein eigenständiges Leben ist oft schwierig, weil bezahlbare Wohnungen fehlen. „Viele Frauen bei uns könnten nach einem halben Jahr schon ausziehen, aber es gibt keinen Wohnraum. Das ist für die Frauen belastend“, sagt Hilke Dröge-Kempf, die im Autonomen Frauenhaus Frankfurt arbeitet. Was helfen würde: öffentlich geförderte Wohnungen für Frauen in Not.

In ländlichen Regionen ist es leichter, eine Wohnung zu finden. Leila hat vor kurzem einen Mietvertrag unterschrieben. In ihrem Abschiedsbrief ans Frauenhaus schreibt sie: „Der Tag ist gekommen, an dem ich mich von diesem schönen Haus verabschieden werde. Wieder mussten wir – ich und meine kleine Tochter – weggehen. Aber heute weiß ich wohin.“ (Kathrin Langhans, Juliane Löffler)

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